Das Studio von Eduard Bigas befindet sich im obersten Stockwerk eines backsteinernen Industriekubus in Berlin-Reinickendorf. Als ich den katalanischen Künstler, der seit nunmehr 5 Jahren in Berlin lebt, dort an einem tristen Januartag zum ersten Mal besuche, scheint es mir, als entferne ich mich mit jedem Schritt auf der schweren Treppe ein Stück weiter von der heute so graukalten Stadt, durch die ich eben noch mit hochgezogenem Kragen und Schultern geeilt bin.
Routiniert öffnet Bigas die massive Tür seines Studios, begrüßt noch kurz den nebenan arbeitenden Tischler bevor er mir den Vortritt in sein Atelier lässt. „The studio is the only place where I am myself. It is the perfect excuse to escape“, sagt er ernst. Ich betrete den hellen, grob gemauerten Raum, mein Blickt schweift über Wände und Regale: dort hängen und liegen Bigas‘ Arbeiten der letzten zwei Jahre, überwiegend Ölgemälde und mehrere großformatige Graphit- und Kreidezeichnungen. Einige der Werke sind noch im Entstehen, andere müssen vor dem nächsten Arbeitsschritt erst trocknen, manche warten nur noch auf den schützenden Firnis. Während die milchige Wintersonne vorsichtig durch die großen Fenster scheint und unser Atem und der Dampf des Kaffees, den Bigas in einem einfachen Kocher zubereitet hat, kleine Wolken in der kalten Atelierluft formen, wird mein Blick von einer dreireihig gehängten Gemäldekomposition angezogen. Ich sehe leuchtende Farbklänge und -rhythmen, schemenhafte, manchmal greifbare und dann sich doch wieder dem Verstand entziehende Formen, ausbalancierte Farbflächen, die um einander schweben, mit einander kommunizieren. Ich sehe Licht, Leichtigkeit, Rhythmus, Farbe, Balance. Sequences #Berlin so nennt Bigas diese große Komposition, die er aus quadratischen Einzelgemälden zusammensetzt. Monochrome Farbflächen bilden zusammen mit nahezu abstrakten, teils surrealen Landschaften und Wesen, von denen einige von einer schwarzen Kreisblende eingefasst sind, ein harmonisches Gesamtwerk, das trotz seiner Größe poetische Leichtigkeit ausstrahlt. Eine Leichtigkeit, die der Künstler auch während des künstlerischen Prozesses erfuhr: „It just happens, I can not stop. The landscapes, they just popped up so easily. The came so easily.“ Mein Blick wandert von Landschaft zu Landschaft, von Form zu Form, verfängt sich in zartlinigen Details und lässt sich treiben. In seiner raumgreifenden Komposition setzt Bigas nicht nur die einzelnen Gemälde zueinander in Beziehung, sondern stellt darüber hinaus das gesamte Werk in Relation zum umgebenden Raum. So hat der Künstler die Sequences #Berlin für seine aktuelle Ausstellung The best of all possible worlds in der Galerie Kuchling erst in den dortigen Ausstellungsräumen komponiert und so ein temporäres Werk geschaffen, das in dieser Form nur während der Ausstellung in der Karl-Marx-Allee zu sehen ist. Die starke Anziehungskraft und nahezu meditative Wirkung der Komposition beruht einerseits auf der ausgewogenen Balance von Farbklängen und Formrhythmen, die Bigas sowohl in einzelnen Motiven wie Ever and ever oder Spirit Garden als auch in der Gesamtkomposition kreiert. Anderseits ist es die Darstellungsweise der einzelnen Motive, die fasziniert: Sind frühere Arbeiten des Künstlers noch deutlich von einer grafischen, oft schwarzen und geradezu unnachgiebigen Linie geprägt, löst sich Bigas nun mehr und mehr von dieser fest umreißenden Instanz und wagt im Medium der Malerei den Schritt in eine noch freiere Farb- und Formgestaltung. Mit meisterhafter Leichtigkeit bewegt er sich auf der Grenze zwischen Fantasie- und Gegenstandswelt, zwischen abstrakt und figurativ, zwischen schwimmenden, schwebenden Farbflächen und feinsten, Halt gebenden Linien. Eine besonders kühne formale Verbindung von Linie und Fläche, von Begrenzung und Raum, ist dabei Bigas‘ Motiv der Kreisblende, das wie in frühen Stummfilmen durch die Verengung des Bildausschnittes den Blick des Betrachters fokussiert. In den Sequences #Berlin wird es als repetitives Motiv zum rhythmisierenden Strukturelement und vermittelt zudem das Gefühl, als würde man – wie durch ein Fernrohr – in eine ferne Welt blicken. – Aber was ist das für eine Welt, diese Welt des Eduard Bigas? Ich schaue mich in seinem Atelier um und sehe einen sorgsam geordneten Kosmos: Pinsel reihen sich aneinander, Farbtuben liegen dicht an dicht, verschiedene Spatel sind mit Bedacht an die Wand montiert. Für Bigas ist sein Studio mehr als nur eine wohlgeordnete Werkstatt, es ist sein Rückzugsort und zugleich sein künstlerischer Ausgangspunkt, an dem er sich ganz und gar dem Malen und Zeichnen und der Welt vor seinem geistigen Auge hingeben kann. Und für diese Welt, die wir nur ansatzweise mit Worten wie Vorstellungswelt und Fantasie greifen können, formt der Künstler in Werken wie den Sequences #Berlin oder dem großen Triptych Sequences ein malerisches Pendant auf der Leinwand, in dem sich die gleiche Sorgfalt, die gleiche Hingabe an das Detail als Teil des Ganzen entdecken lässt, die auch sein Atelier bestimmt. Jede noch so zarte Linie, jede feine Farblasur, jede schimmernde Nuance ist das Produkt eines immens geschärften Auges, einer meisterlich geschulten Hand und eines Schaffensdranges, der seinen Weg nach außen sucht. Denn in jenem Augenblick, in dem Bigas‘ Landschaften, Wesen und Schemen auf der Leinwand Farbe und Form annehmen, verlassen sie die innere Welt des Künstlers, übertreten die Grenze nach außen und werden – wie jetzt in der Galerie Kuchling – zum Mittler zwischen Künstler und Außenwelt. „It is the way of saying: ‚I am here‘“, sagt Bigas und zeigt mir das großformatige Ölgemälde The best of all possible worlds, das Titelgeber der Ausstellung ist. Ich sehe eine karge Landschaft aus zarten Ocker- und Violetttönen, über der schwungvoll ein Regenbogen gen Himmel steigt und schließlich in einer Wolke versinkt. Zugleich erhebt sich aus dieser Wolke eine rote, monströs wirkende organische Form. Bigas nennt sie „Ego“. In The best of all possible worlds schwebt diese machtvolle Kraft bedrohlich über allem und schwächt doch nicht die Leuchtkraft des Regenbogens, dessen kompositorisches Gegenstück sie ist. Das Ego ist wichtiger Bestandteil des Gleichgewichts, das in dieser besten aller möglichen Welten herrscht. Es ist allerdings ein fragiles und vielleicht auch fragwürdiges Gleichgewicht, das Leibniz‘ in seinem gleichnamigen Postulat optimistisch und voller Gott- und Weltvertrauen als gegeben annimmt, das jedoch in der Nachfolge nicht nur Voltaire mit seiner Satire „Candide“ als idealistische Augenwischerei kritisiert. Es ist die Kluft zwischen idealer, innerer Welt und realer, äußerer Welt, die Voltaire zum Zyniker werden lässt. Und auch Bigas, der alles andere als ein unpolitischer Träumer ist und sich angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen um seine Heimat Europa sorgt, fühlt diese Kluft, überspringt sie jedoch entschlossen und lässt ganz bewusst mit jedem Pinselstrich die Welt vor der Leinwand hinter sich: „It is the perfect excuse to escape…“ Und so überrascht es nicht, dass die meisten seiner aktuellen Gemälde – bis auf die an menschliche Körperformen erinnernden, teils erotisch anmutenden Strukturen, die Bigas in Continuous Present mit Öl, Kreide und Graphit umreißt – im Gegensatz zu unserer oft so übervollen Welt menschenleer sind. Der Verzicht auf die menschliche Gestalt und Bigas‘ Balancieren zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit schaffen gestalterischen Freiraum. Einen Freiraum, der Platz für unterschiedliche Deutungen, Gedanken und Empfindungen lässt und das Kunstwerk – und auch den Künstler – nie mit einer endgültigen Deutung erdrückt: „I wanna keep it between reality and fantasy… I feel comfy there. There I can keep it private. Nobody is going to step there … I am aware what happens [in the world] but I don’t want to include that in my work … I want to keep it safe for myself.“ Mit demselben Pinselstrich also, mit dem Bigas sagt „I am here“, entzieht er sich auch wieder und bewahrt in diesem Paradoxon den fragilen und poetischen Schwebezustand seiner Werke.
Und als ich mich nach dem Gespräch von Bigas verabschiede und von seinem Atelier in den Kubus und vom Kubus in die Welt davor hinaustrete und im dichten Schneegestöber durch die Berliner Straßen stapfe, denke ich noch: Vielleicht leben wir ja trotz oder gerade angesichts all der politischen und (un)menschlichen Unmöglichkeiten in der besten aller möglichen Welten. Immerhin ist es eine Welt, in der es Künstlern wie Eduard Bigas mithilfe von etwas Farbe auf einer Leinwand und einem unerschütterlichen Schöpfungsdrang gelingt, dass wir die harten Kontraste unserer Welt für einen Moment vergessen und stattdessen ihre leuchtenden Farben, ihren unbegreiflich schönen Rhythmus und ihre unendliche Formenvielfalt ebenso als wesentliches Detail des Ganzen erkennen – und sei es nur für die Zeitspanne eines kontemplativen Moments in einem Atelier oder einer Ausstellung.
Text: Claudia Heidebluth
Midissage am Gallery Weekend: Samstag, 29. April 2017 von 19-23 Uhr
Special guest: Yoshiko Yamane
Ausstellung: 24. März – 6. Mai 2017
Anlässlich der Ausstellung erscheint ein Katalog zum Werk von Eduard Bigas.
KÜNSTLER